Wer die Wahrheit will, muss mit dem Verräter leben können

Wer die Wahrheit will, muss mit dem Verräter leben können

Ich liebe den Verrat, aber hasse den Verräter

Ein Bonner Urteil, das die Republik erschüttert hat wie ein Cum-Ex-Sparplan den Bundeshaushalt: Dr. Kai-Uwe Steck, juristischer Architekt steueroptimierter Parallelwelten, wurde am 3. Juni 2025 wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Fünf Fälle. Ein Jahr und zehn Monate. Auf Bewährung.

Und das bei einem Steuerschaden in dreistelliger Millionenhöhe! Die Republik empört sich. Die „Bild“ tobt, das „Handelsblatt“ nennt das Urteil eine Farce. Und irgendwo in einem Finanzamt in Castrop-Rauxel weint ein Sachbearbeiter bittere Tränen auf die Lohnsteuererklärung eines Bäckermeisters.

Doch der Reihe nach.

Der Mann, der zu viel wusste

Kai-Uwe Steck war nicht einfach ein Mitläufer. Er war kein Azubi im Maschinenraum, sondern Konstrukteur des Antriebs. Als Wirtschaftsanwalt entwarf er die juristischen Schaltpläne, mit denen Banken und Investoren sich das Kapitalertragsteuerkarussell schönrechneten. Cum-Ex war sein Design.

Doch dann wechselte Steck die Seiten. Er wurde Kronzeuge. Und nicht irgendeiner. Er war das Sägeblatt, das die große Cum-Ex-Eiche fällte. Dank seiner Aussagen: hunderte Millionen zurück an den Staat, Verfahren gegen Hanno Berger und Christian Olearius. Steck sprach, und die Cum-Ex-Welt wankte.

Gesetz ist Gesetz

§ 46b StGB heißt das Zauberwort. Die Kronzeugenregelung. Wer entscheidend zur Aufklärung beiträgt, darf auf eine mildere Strafe hoffen. Oder sogar auf ein Absehen von Strafe. Auch bei Wirtschaftskriminalität. Auch bei Cum-Ex. Das ist kein Skandal, das ist Gesetz.

Das Landgericht Bonn hat dieses Gesetz angewendet. Es hat die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung erkannt, es hat die Aufklärungsleistung gewürdigt, es hat die Milderung vorgenommen. Punkt.

Das Missverständnis von Gerechtigkeit

Die Empörung über das Urteil ist groß, weil sie mit einem fatalen Missverständnis einhergeht: Dass Strafe ein Racheakt sei. Doch moderne Strafjustiz will nicht rächen, sondern regulieren, motivieren, aufklären. Und manchmal auch: belohnen. Ja, belohnen. Nötig ist das, wenn es ohne die Hilfe des Täters keine gerechte Aufarbeitung gäbe.

Die Idee, dass ein Täter, der mitarbeitet, weniger bekommt als einer, der schweigt, ist kein Skandal. Sie ist ein strategisches Instrument. Wer Steck jetzt an den Pranger stellt, weil er 11 Millionen zahlte, aber 50 verdient hat, übersieht: Ohne Steck wären gar keine Millionen zurückgeflossen.

Verrat mit Ansage

„Ich liebe den Verrat, aber hasse den Verräter“ soll Kaiser Vespasian gesagt haben. Und wer einmal den Kommentar von Malte Vogtsmeier im Handelsblatt liest, versteht: Der Satz lebt. Steck hat das System verraten, das er einst selbst mitgebaut hat. Dafür wird er jetzt doppelt gehasst: als Täter und als Verräter.

Aber vielleicht sollten wir lieber die lieben, die den Verrat wagen. Auch wenn sie sich dabei nicht selbst vernichten. Wer Kronzeugen will, darf sie nicht ruinieren. Wer Aufklärung verlangt, muss mildernde Umstände anerkennen. Das Urteil ist kein Persilschein. Es ist ein Lehrbuchfall des § 46b StGB.

Und es ist ein Zeichen: Dass Gerechtigkeit mehr ist als Strafe. Nämlich auch Vernunft.


Aktenzeichen: LG Bonn, Urteil vom 3. Juni 2025, 63 KLs 1/22
Ausführliche Dokumentation auf der Webseite des sehr geschätzten Kollegen Dr. Strate https://strate.net/verfahren/strafverfahren-cum-ex-kronzeuge-landgericht-bonn/

Geschäftsführer wider Willen – oder: Wie man sich ins Gefängnis „faktisch“ hineinarbeitet

Geschäftsführer wider Willen – oder: Wie man sich ins Gefängnis „faktisch“ hineinarbeitet

I. Der Fall: Kartoffelschälbetrieb mit Betriebsblindheit

Was klingt wie ein Sketch aus dem Schwarz-Weiß-Fernsehen der Fünfziger, war in Wirklichkeit Gegenstand einer höchst realen Strafsache: Ein Unternehmen in Süddeutschland beschäftigte osteuropäische Arbeitskräfte, die für 30 Euro am Tag – nicht pro Stunde – Kartoffeln schälen durften. Die Kartoffeln hatten’s gut: Die wurden wenigstens geschält. Die Sozialversicherungsbeiträge blieben teilweise gleich ganz unberührt – was bei der Vielzahl der Fälle irgendwann auch den Fiskus und die Strafverfolgung auf den Plan rief.

Drei Personen wirkten im Unternehmen mit: Einer mit Stempel und Handelsregistereintrag – formeller Geschäftsführer –, zwei ohne offizielles Amt, aber mit wirtschaftlichem Gestaltungswillen. Während der eine Unterschriften leistete, führten die anderen Bankkonten, Mitarbeiter und – wie das Landgericht meinte – das eigentliche Geschäft.

II. Die juristische Frage: Wenn drei sich streiten, wer war dann Chef?

Die Strafkammer sah in den beiden Letztgenannten faktische Geschäftsführer – also solche, die zwar nicht offiziell eingesetzt, aber in der Sache verantwortlich seien. Und weil das deutsche Strafrecht mit Begriffen arbeitet, die sich so elastisch dehnen lassen wie der Begriff “Verantwortung” bei politischen Rücktritten, wurde das kurzerhand so hingenommen.

Der Bundesgerichtshof hatte daran jedoch – man glaubt es kaum – etwas auszusetzen. Denn: Wer als faktischer Geschäftsführer verurteilt werden soll, muss auch tatsächlich eine überragende Stellung innehaben. Nicht einfach nur „mitmachen“, „ein bisschen lenken“ oder „am meisten wissen“, sondern richtig: Weisungsbefugnis, Alleinentscheidungsmacht, faktische Firmenmonarchie.

Diese Prüfung hatte das Landgericht sich gespart – wohl in der Annahme, dass schon irgendjemand schuld sein müsse. Im Zweifel eben alle in einen Sack und mit dem Knüppel der  Geschäftsführerhaftung immer kräftig draufgehauen. Der BGH hingegen verlangte Nachsitzen in Wirtschaftsstrukturkunde und schickte die Sache zurück an die Strafkammer. Mit der freundlichen Erinnerung: Auch im Strafrecht gilt der Grundsatz „nulla poena sine lege“ – und nicht „irgendwer wird’s schon gewesen sein“.

III. Fazit: Zwischen Kartoffelschale und Verantwortungslage

Das Urteil zeigt einmal mehr, dass nicht jeder, der am Ruder steht, auch der Kapitän sein muss. Wer als faktischer Geschäftsführer verurteilt werden soll, muss nachweislich das Ruder fest in der Hand gehalten haben – und zwar nicht nur beim Kartoffelschälen, sondern im unternehmerischen Gesamtgefüge. Die Strafjustiz hingegen sollte sich ab und zu daran erinnern, dass auch der Begriff „überragend“ nicht bedeutet: „Der war irgendwie dabei.“


Aktenzeichen: BGH, Beschluss vom 23. März 2022 – 1 StR 511/21

Sicherungsverwahrung mit Etikettenschwindel

Sicherungsverwahrung mit Etikettenschwindel

Oder: Wie der BGH dem Landgericht Leipzig die Verpackungsverordnung erklärt hat.

I. Der Fall – Strafsache oder Sicherungsverfahren? Antwort: „Je nachdem, was gerade auf dem Etikett klebt“

Das Landgericht Leipzig hatte eine glorreiche Idee: Wenn ein Angeklagter vielleicht schuldunfähig ist, aber dennoch irgendwie weggesperrt gehört – warum nicht einfach so tun, als sei das alles ein Sicherungsverfahren gewesen? Wie kam es dazu? Die Staatsanwaltschaft beantragte einst einen Strafbefehl, das Amtsgericht machte eine Hauptverhandlung draus, ein Gutachter sprach, das Amtsgericht erkannte seine eigene Unzuständigkeit und ordnete richtigerweise nur eine vorläufige Unterbringung an. Es gab die Sache sodann an das Landgericht ab, das jedoch den Ball nicht sauber aufnahm: Weder stellte die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Durchführung eines Sicherungsverfahrens, noch fasste die Kammer den erforderlichen Beschluss zur Überleitung – und schwupps: wurde der „Beschuldigte“ dennoch in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, als sei das alles völlig normal.

Was fehlte? Ach ja: die rechtliche Grundlage.

Denn das Ganze war – wie der BGH trocken feststellte – gar kein Sicherungsverfahren. Und als solches hätte es geführt werden müssen, wenn man denn schon meinte, der Mann sei schuldunfähig. Doch stattdessen hat man eine Strafsache draus gemacht, als könne man zwischen § 63 StGB und dem Sicherungsverfahren der §§ 413 ff. StPO frei nach Tagesform entscheiden – obwohl genau das nach ständiger Rechtsprechung des BGH unzulässig ist: „Die Überleitung des Strafverfahrens in ein Sicherungsverfahren nach § 413 ff. StPO ist nach Zulassung der Anklageschrift und Eröffnung des Hauptverfahrens nicht möglich; vielmehr ist der Angeklagte im Falle der Schuldunfähigkeit freizusprechen und gegebenenfalls im Strafverfahren nach §§ 63, 64 StGB unterzubringen“ (BGH, Beschl. v. 18.8.2021 – 5 StR 247/21).

II. Das Urteil: BGH 5 StR 213/25 – eine kleine Lehrstunde in Prozessrecht

Der BGH hat diesen juristischen Etikettenschwindel nicht durchgehen lassen: Urteil aufgehoben, zurück an eine andere Kammer des Landgerichts, und das mit klarer Ansage: Wer nach § 63 unterbringen will, muss auch das Verfahren dafür wählen. Das nennt sich: Formgebot – oder wie Rudolf von Jhering es formulierte:

„Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen.“

Man möchte ergänzen: Sie verhindert auch, dass psychiatrische Unterbringungen aus Versehen auf dem Formblatt „Anklageschrift“ bestellt werden.

III. Fazit – Justiz mit Stil, nicht aus dem Reste-Regal

Was bleibt? Die Hoffnung, dass Landgerichte sich künftig weniger wie improvisierende Küchenchefs verhalten („Was haben wir denn noch im Kühlschrank?“), sondern das richtige Rezept samt korrektem Etikett verwenden.

Denn im Zweifel gilt: „Sicherungsverfahren“ bleibt „Sicherungsverfahren“, auch wenn es in einer Tupperdose mit der Aufschrift „Strafprozess“ serviert wird.


BGH, Beschluss vom 6. Mai 2025 – 5 StR 213/25

Recht bekommen? Aber nur ein Satz

Recht bekommen? Aber nur ein Satz

Der BGH und die hohe Kunst des feststellenden Schuldbewusstseins

Wenn das Verfahren stockt, aber das Gewissen läuft:

Es gibt Dinge, die dauern. Zum Beispiel Berliner Flughäfen. Oder Strafverfahren. Oder das Zählen von Bestechungsakten in Frankfurt. So auch im Fall eines – nennen wir ihn traditionsbewusst – geschäftstüchtigen Angeklagten, der in 67 Fällen bestochen hat und so nebenbei noch zwei bis drei Subventionsbetrügereien verübte. Das Urteil: Zwei Jahre und neun Monate Haft. Eine Justiz, bei der das Urteil prompt kommt – allerdings nur in der ersten Instanz.

Das war am 12. Mai 2023. Dagegen wurde binnen einer Woche Revision eingelegt und binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils auch fristgerecht begründet. Dann passierte – lange Zeit: nichts. Oder jedenfalls nichts Entscheidendes, außer dass irgendwo im Bundesgerichtshof die Kalender weiterblätterten. Erst am 8. April 2025 – also 1 Jahr und 11 Monate später – kam der große Moment: Der BGH verkündete, dass das Revisionsverfahren für genau sechs Monate „rechtsstaatswidrig verzögert“ wurde.

23 Monate Bearbeitungszeit. Davon 6 rechtswidrig. Bleiben 17.

Was sind also die restlichen 17 Monate? Offenbar: rechtsstaatskonform verschlampt. Ein raffinierter Unterschied. Denn im deutschen Rechtsstaat gibt es keine Fristen, nur Zeitfenster. Manche öffnen sich nicht. Manche sind zu. Und manche sind einfach nicht da.

Was tun, wenn die Zeit läuft, aber das Verfahren nicht?

Der BGH, bekannt für seine poetische Zurückhaltung und gefühlige Urteilsprosa, wagte einen Schritt, den man in besseren Kabarettprogrammen als Ironie des Schicksals verkaufen würde: Er stellte fest, dass etwas schieflief. Nicht alles. Nur ein Sechstel. Und zur Genugtuung des Angeklagten (der vermutlich gehofft hatte, ein halbes Jahr Zwangspause könne man ihm irgendwie auf die Strafe anrechnen) gab es die großmütige Feststellung:

„Das Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof wurde sechs Monate rechtsstaatswidrig verzögert.“

Keine Entschädigung. Keine Haftverkürzung. Kein Rabatt.

Stattdessen: ein Satz. Gedruckt. Und damit – so der Gedanke – Genugtuung genug. Ein Trostpflaster in Form eines feierlich formulierten Behörden-Tattoos auf dem Papier. Rechtsstaat zum Einrahmen. Denn: „Es genügt festzustellen.“

Fazit:
Die Gerechtigkeit mahlt langsam – aber nicht durchgehend. Die meiste Zeit steht sie einfach nur dekorativ in der Ecke. Und wenn sie sich dann mal bewegt, schreibt sie auf, dass sie stand.


Beschluss vom 8. April 2025 – BGH, Az. 1 StR 475/23

Vollmachtsfalle mit Totalschaden

Vollmachtsfalle mit Totalschaden

1. Ein Urteil ist ein Urteil ist ein Urteil.

Es war einmal ein Landgericht, das im Spätsommer des Jahres 2024 ein Urteil sprach. Die Angeklagten: wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt zu Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt. Die Nebenbeteiligte: eine GmbH, gegen die die Einziehung eines Wertersatzes in sechsstelliger Höhe angeordnet wurde. Schmerzhaft, aber nicht hoffnungslos. Dachte man.

Denn Rettung winkte in Gestalt der Revision. Wobei „winken“ in diesem Fall eher ein kurzes Zucken im Todeskampf juristischer Hoffnung war.

2. Die Revision: eingelegt – wie ein Boarding ohne Ticket.

Die GmbH wollte sich wehren – und tat das auch: Fristgerecht, innerhalb der Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO, wurde durch ihren anwaltlichen Vertreter Revision eingelegt und die Vertretung für die Nebenbeteiligte angezeigt. Soweit, so ordentlich.

Aber: Die vorgeschriebene, schriftliche Vollmacht – hier maßgeblich nach § 428 Abs. 1 StPO, der für Nebenbeteiligte gilt – wurde bei Einlegung nicht mit vorgelegt. Und das ist in der Revisionswelt ungefähr so, als würde man beim Einchecken am Flughafen pünktlich erscheinen – aber den Reisepass zu Hause vergessen.

3. Wiedereinsetzung? Nur mit Zeitmaschine.

Man versuchte es mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Klassiker: „Ich war verhindert, weil…“ – funktioniert meistens dann nicht, wenn man schlichtweg geschlafen hat.

Der BGH war hier streng: Die nachgereichte Vollmacht reichte ihm nicht. Er entschied, dass das Rechtsmittel mangels ordnungsgemäßer Bevollmächtigung unzulässig war. Dabei bemerkenswert: Der Kollege sei bereits am 20. November 2024 auf das Fehlen der Vollmacht hingewiesen worden.

4. Der feine Unterschied: nicht geschlafen – nur zu spät aufgewacht.

Was hier passiert ist, war kein „Ich hab die Frist vergessen“, sondern eher ein „Ich war da – aber hab das entscheidende Papier im Scanner liegen lassen“. Der Kollege hat also nicht die Einlegung der Revision verschlafen, sondern den Nachweis der Vollmacht.

Dass der BGH darauf so unnachgiebig reagiert, mag juristisch vertretbar sein – aber man hätte hier – bei klar erkennbarem Vertretungswillen und fristgerechter Einlegung – auch mal großzügig die kirchliche Gnade der Nachsicht walten lassen können. Gerade wenn die Revision erkennbar im Namen der Nebenbeteiligten eingelegt wurde und der Kollege frühzeitig als Vertreter auftrat. In der Erkenntnisinstanz genügt für den Verteidiger des Angeklagten die anwaltliche Versicherung, dass eine entsprechende Vollmacht vorliegt – warum also hier die vollständige Förmlichkeitshärte des § 428 Abs. 1 StPO durchgezogen wurde mag auch mit der damit verbundenen Arbeitserleichterung zu tun haben. Denn warum sich mühsam mit Einziehungsfragen beschäftigen, wenn man das Verfahren bereits an der Zulässigkeit scheitern lassen kann? Im anderen Fall einer Rücknahme eines Rechtsmittels – für das ebenfalls eine ausdrückliche Ermächtigung erforderlich ist – wird diese doch eher selten angefordert und geprüft.

5. Haftung und Haftpflicht: ein kurzer Anruf mit Beigeschmack.

Ob der Kollege damit haftet? Möglich. Ob die Revision Aussicht auf Erfolg gehabt hätte? Darüber werden sich Anwälte und Versicherer streiten. Klar ist nur: Ein sechsstelliges Einziehungsurteil ist nun rechtskräftig, obwohl der eigentliche Streitpunkt gar nicht inhaltlich geprüft wurde. Und das tut weh – juristisch wie finanziell.

6. Fazit: Formalien sind keine Förmlichkeiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Fall für den Ethikunterricht. Sondern für den Aktenordner mit der Aufschrift „Formalia töten“. Wer bei der Revision nicht nur rechtzeitig, sondern auch formgerecht agiert, darf mitspielen. Wer das vergisst – selbst bei bester Absicht und tadelloser Fristwahrung – steht draußen vor der Tür.

Und wer das jetzt für übertrieben hält: Bitte sehr, hier ist das Aktenzeichen:

BGH, Beschluss vom 22.04.2025 – 5 StR 86/25

Ironisch-verdauliche Urteilsnachlese: „Betrüger waschen nicht – sie reichen nur weiter“

Ironisch-verdauliche Urteilsnachlese: „Betrüger waschen nicht – sie reichen nur weiter“

Ein Klassiker in Neuauflage: Geldwäsche, bei 30 Grad, nicht schleudern

Was für den Laien nach einer ganz normalen Berufslaufbahn im Logistikbereich klingt – etwas holen, etwas bringen, etwas sortieren – war für das Landgericht Kiel ein kriminelles Full-Service-Paket: Unser Protagonist, zunächst als „Abholer“, später als „Logistiker“ tätig, bewegte sich innerhalb einer Betrügerbande so effizient wie ein DHL-Bote zur Weihnachtszeit. Dummerweise verwechselte das Landgericht dabei Geld mit Schmutzwäsche.

Die hochverehrten Kieler Richter erkannten in der internen Weitergabe von Beute – von einem Betrüger an den nächsten – nämlich etwas, das sie für Geldwäsche hielten. Nun ja, das war es leider nicht.

Denn: Nach § 261 Abs. 7 StGB darf man wegen Geldwäsche nicht belangt werden, wenn man bereits an der Vortat beteiligt war – es sei denn, man verschleiert die Herkunft des Geldes durch sogenanntes „Inverkehrbringen“. Und das bedeutet mehr als nur: „Hier, nimm du mal die Uhr, ich hab keine Hosentasche frei.“

Mit anderen Worten: Wer schmutzige Beute von A nach B trägt, ist nicht automatisch ein Geldwäscher. Denn auch die dreckigste Rolex wird durch Anfassen nicht sauber – sie bleibt einfach nur gestohlen. Und das wusste sogar der Bundesgerichtshof.


Neues Urteil, neue Hoffnung

Der BGH hob das Urteil in Teilen auf und belehrte liebevoll: Geldwäsche ist kein Staffellauf, bei dem der Betrugs-Goldbarren elegant weitergereicht wird. Und wer schon beim Betrug mitgemacht hat, kann nicht einfach noch eine zweite Urkunde für dieselbe Schweinerei erhalten – es sei denn, er bringt die Beute durch clevere Verschleierung ins Finanzsystem.

Fazit: Betrüger waschen nicht. Sie delegieren. Und wer das nicht erkennt, sollte sich statt mit Paragraphen lieber mit Waschzetteln beschäftigen.

Aktenzeichen des BGH: 5 StR 29/25

Corona-Hilfe – Betrügen Sie hauptberuflich oder im Nebenerwerb?

Corona-Hilfe – Betrügen Sie hauptberuflich oder im Nebenerwerb?

Die Aufarbeitung der Corona-Soforthilfe-Anträge beschäftigt auch vier Jahre nach der Antragsflut und den schnellen, ungeprüften Auszahlungen durch die ILB die Strafjustiz. Doch inzwischen hat sich der Wind gedreht: wenn die Staatsanwaltschaft im Nachhinein den Verdacht hegt, dass die Fördervoraussetzungen nicht erfüllt waren, flattert dem Antragsteller ein Anhörungsbogen ins Haus, sodann ein Strafbefehl oder gleich die Anklage. Mal waren die Geschäfte der Antragsteller angeblich frei erfunden, mal befand sich das Unternehmen schon vor der Pandemie in finanzieller Schieflage oder es lagen keine förderfähigen Betriebskosten vor.

Ungewöhnlich war ein Fall den ich kürzlich vor dem AG Tiergarten verhandelt habe: Der Mandant sei zwar selbständig tätig gewesen, seine Einnahmen seien auch wegen der Pandemie zurückgegangen ABER er habe die selbständige Tätigkeit nur nebenberuflich – nicht im Haupterwerb – ausgeübt und damit einen Betrug begangen. Richtig ist natürlich, dass man nur Antragsteller unterstützen wollte, die darauf angewiesen waren. Wer im Hauptberuf 5.000 € als Angestellter oder Beamter verdient, braucht für seinen nebenberuflichen selbständigen Handel mit Hundeschampoo keine Subventionen.

Deshalb war ich natürlich gespannt, welchem Haupterwerb der Mandant nachging. Sämtliche Konten wurden ermittelt und die Kontoauszüge seitens der Ermittlungsbehörden von den Banken angefordert. Welche weiteren Einkünfte hatte er? Ich fragte den Mandanten, ich las die Akte, ich suchte in den Kontoauszügen und ich fand – NICHTS. Gar nichts. Keine weiteren Einnahmen. Trotzdem beantragte die Amtsanwaltschaft den Erlass eines Strafbefehls wegen Computerbetrugs. Woher stammte die Idee, dass es sich lediglich um einen Nebenerwerb handelte?

Alles vorgetragen und angeregt man möge den unsinnigen Strafbefehl zurücknehmen – das Gericht zweifelt, fragt bei der Amtsanwaltschaft nach, von dort kommt dann nur die geheimnisvolle Antwort, die Einschätzung der Verteidigung werde nicht geteilt. Man wolle den Strafbefehlsantrag nicht zurücknehmen.

In der Hauptverhandlung dann keine Überraschung, sondern der verdiente Freispruch:

„Dabei habe er bewusst wahrheitswidrig angegeben, ein am 01.03.2016 gegründetes Einzelunter-nehmen im Haupterwerb zu führen und die beantragten Mittel ausschließlich für den fortlaufenden betrieblichen Sach- und Finanzaufwand des Unternehmens in den nächsten drei Monaten zu verwenden. Tatsächlich habe der Angeklagte die vorgenannte Tätigkeit nur im Nebenerwerb ausgeübt; auch seien ihm im verfahrensgegenständlichen Zeitraum keine betrieblichen Sach- und Finanzaufwände entstanden. Ihm sei es ausschließlich darauf angekommen, den Zuschuss von der Investitionsbank Berlin zu erhalten, obwohl er gewusst habe, dass die Fördervoraussetzungen nicht erfüllt waren.

Der Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit war ihm die Begehung der Tat nicht nachzuweisen.

Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahingehend eingelassen, dass er die Tätigkeit im Haupterwerb ausgeübt, keine weiteren Konten und Einkünfte gehabt und auch keine Lohnersatzleistungen erhalten habe. Die in der Hauptverhandlung erörterten Kontoauszüge des Angeklagten bestätigen diese Einlassung. Danach waren die Fördervoraussetzungen erfüllt.“

(AG Tiergarten, Urteil vom 15.04.2024, 275 Cs 280/23).

Wohnst Du noch oder fackelst Du schon?

Wohnst Du noch oder fackelst Du schon?

Wer sein Haus anzündet, will vermutlich nicht mehr darin wohnen. Klingt banal, ist aber für die rechtliche Einordnung, ob es sich um eine schwere Brandstiftung handelt von entscheidender Bedeutung. Geschütztes Rechtsgut ist und bleibt die „Wohnstätte“ und wenn diese im Alleineigentum des Tatverdächtigen steht, kann er sich auch jederzeit dazu entscheiden, dass das dem Feuer geweihte Gebäude in alter Schabowski Manier „also ick sach ma ab sofort gilt das unverzüglich“ nicht mehr dem Wohnzweck dient.

Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Landgericht Frankenthal allerdings bereits aufgrund einer hanebüchenen Beweiswürdigung auf. Dem Angeklagten wäre eine unbedachte Spontanäußerung fast zum Verhängnis geworden. Dies bestätigt mal wieder die wichtigste Regel der Strafverteidigung: Schweigen ist Gold. Hier hat der Beschuldigte lediglich gegenüber einem Polizisten geäußert, dass er allein vor Ort war, als er den Brand bemerkte. Dies hat dem Landgericht ausgereicht, um davon auszugehen, dass der Angeklagte den Brand auch gelegt haben muss:

„Aus dieser Äußerung hat das Landgericht ohne nähere Begründung den Schluss gezogen, dass der Angeklagte die einzige Person gewesen sei, die sich im Zeitpunkt der absichtlichen Brandlegung vor Ort befand und daher allein als Täter in Betracht komme.“

Da staunt der Fachmann und der Zeuge fürchtet sich. Wenn dies zur Beweisregel erhoben werden sollte, dürften Zeugen, die nicht selbst als Tatverdächtige verfolgt werden wollen, zukünftig nur noch Brände melden wenn sie gleichzeitig andere Tatverdächtige benennen können. Die Qualität der Überzeugungsbildung bewegt sich damit ungefähr auf dem Niveau von: „Wer den Pups zuerst gerochen…“

Das zwischen dem Zeitpunkt der Brandlegung und der Brandbemerkung ein nicht unerheblicher Zeitraum liegen kann, dass der Angeklagte möglicherweise andere Personen schlicht nicht bemerkt hat oder ein technischer Defekt an den Stromleitungen, im Zählerkasten oder einem Küchengerät die Ursache des Brandes gewesen sein könnte, wird nicht weiter erörtert. Die konkrete Brandursache wurde nicht festgestellt. Auch der Zeitpunkt der vermeintlichen Brandlegung oder der Zeitpunkt des Bemerkens wurden nicht mitgeteilt. Objektive Spuren wie Brandbeschleuniger konnten offenbar nicht gefunden werden. Damit ist die Überzeugung von der Täterschaft nichts weiter als eine Vermutung. RUMMS – da ist also doch mal die Grenze überschritten, bei der die Revisionsinstanz die Beweiswürdigung des Landgerichts zerlegt, die doch eigentlich dem Tatrichter vorbehalten ist. Erörterungsmängel in dieser Qualität sind allerdings auch nicht so häufig anzutreffen.

Manche Formulierungen sind so elegant, die möchte man siezen:

„Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit setzt objektive Grundlagen voraus, die den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Diese Überzeugungsbildung muss deshalb auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruhen und erkennen lassen, dass die vom Tatgericht gezogenen Schlussfolgerungen mehr als eine Annahme oder eine Vermutung sind, für die es an einer belastbaren Tatsachengrundlage fehlt und die daher nicht mehr als einen ‒ wenn auch schwerwiegenden ‒ Verdacht begründen.“

„Denn regelmäßig ist mit dem Inbrandsetzen der Wille kundgetan, das Gebäude nicht mehr als Wohnung zu benutzen . Eine solche Entwidmung nimmt dem Tatobjekt aber die von § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorausgesetzte Zweckbestimmung.“

BGH 4 StR 128/23

Kinderporno-Paragraph verfassungswidrig?

Kinderporno-Paragraph verfassungswidrig?

Kinderporno-Paragraph verfassungswidrig?

Die Strafandrohung bei Delikten der Kinderpornographie wurde zum 01. Juli 2021 deutlich verschärft und beträgt seitdem Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bis zu 10 Jahren. Vorher lag der Strafrahmen bei 3 Monaten bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe.

Zahlreiche Strafverteidiger aber auch Richter und Professoren haben bereits im Gesetzgebungsprozess darauf hingewiesen, dass diese Verschärfung in vielen Fällen zu absurden Ergebnissen führen wird, die dem Unrechtsgehalt der jeweiligen Tat nicht mehr gerecht werden kann. Eine Einstellung des Verfahrens ist aufgrund der erhöhten Strafandrohung auch bei relativ „harmlosen Fällen“ nun nicht mehr möglich. Auch eine Erledigung im Strafbefehlswege scheidet dadurch aus.

Ein Richter des Amtsgerichts München hält die derzeitige Regelung deshalb für verfassungswidrig und hat ein aktuelles Verfahren zum Anlass genommen das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, um es überprüfen zu lassen:

Ein achtjähriges Mädchen hat ihre Vagina fotografiert und dieses Foto einer Schulfreundin geschickt. Deren Mutter war darüber empört und schickte dieses Foto an andere Eltern der Mitschüler, um auf das problematische Verhalten hinzuweisen.

Dieses Weiterleiten des Fotos dürfte den Tatbestand des § 184 b StGB erfüllen. Damit wäre die Mutter wegen Verbreitung kinderpornografischer Inhalte zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu verurteilen. Ebenso die Empfänger des Fotos wenn sie dieses nicht unverzüglich nach dem Erhalt löschen. Man stelle sich nun vor, es befände sich unter den Eltern die dieses Foto empfangen haben zufällig eine Richterin die das Foto abends bei verschlossenen Rollläden, mit Schamesröte im Gesicht und voller Empörung im Bauch noch kurz ihrem Mann zeigt um diesen über den Vorgang zu informieren, dann wäre auch diese Richterin wegen Besitz und dem „Unternehmen einer anderen Person einen kinderpornografischen Inhalt zugänglich zu machen“ mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr zu bestrafen, sie würde als Folge der Freiheitsstrafe ihren Beamtenstatus und damit ihre Pensionsansprüche verlieren.

Spätestens bei der Variante dürfte sich jedem bei klarem Verstand offenbaren das der Gesetzgeber mit der Strafverschärfung „weit über das Ziel hinausgeschossen“ ist. Die Einführung eines „minder schwerer Falls“ könnte hier Abhilfe schaffen und dem Richter einen angemessenen Strafrahmen eröffnen. Das Strafverfahren wurde ausgesetzt und das Gesetz gemäß Art. 100 des Grundgesetzes dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt (2 BvL 11/22).

„Kleine Kanalratte“ – Meinungsfreiheit oder Beleidigung?

„Kleine Kanalratte“ – Meinungsfreiheit oder Beleidigung?

Wolfgang Kubicki hat Erdogans Flüchtlingspolitik bei einer Wahlkampfveranstaltung in Hildesheim kritisiert und ihn in dem Zusammenhang als „kleine Kanalratte“ bezeichnet. Dieser hat deswegen nun bei der für den „Tatort“ zuständigen Staatsanwaltschaft Hildesheim Anzeige wegen Beleidigung und Verleumdung erstatten lassen.

Eine Verleumdung dürfte schonmal nicht vorliegen, denn diese setzt eine Tatsachenbehauptung voraus. Dass Herr Kubicki mit seiner Äußerung über Herrn Erdogan NICHT ernsthaft die Tatsachenbehauptung aufstellen wollte, der türkische Präsident stamme aus der Nagetiergattung der Altweltmäuse, habe ein weiches Fell und eine spitze Schnauze dürfte auch dem kleinsten Spatzenhirn und dem größten Hornochsen klar sein. Es geht hier um den Vergleich aus dem Tierreich und darum ob dieser zweifellos abwertende Vergleich die Grenze der „Formalbeleidigung“ oder der „Schmähkritik“ erreicht hat oder noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Darüber kann man sich streiten.

Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen Werturteile sowie Tatsachenbehauptungen, soweit diese zur Bildung von Meinungen beitragen. Und dieser Bereich wird von der Rechtsprechung sehr weit gefasst. Geschützt sind nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen; vielmehr darf gerade Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt geäußert werden. Es ist eine auf den Einzelfall bezogene Abwägung zwischen dem Gewicht der Persönlichkeitsbeeinträchtigung einerseits und der Einschränkung der Meinungsfreiheit andererseits vorzunehmen.

Eine Abwägung ist regelmäßig nur dann entbehrlich, soweit es um herabsetzende Äußerungen geht, die sich als reine Formalbeleidigung oder Schmähkritik darstellen. Hiervon darf wegen der für die Meinungsfreiheit einschneidenden Folgen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen ausgegangen werden. Auch eine überzogene oder sogar ausfällige Kritik macht eine Äußerung erst dann zur Schmähung, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.

Politiker müssen zwar nicht jeden Angriff im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, aber gerade im Bereich der „Machtkritik“ misst die Rechtsprechung der Meinungsfreiheit im Zweifelsfall einen höheren Stellenwert bei, wenn nur ein irgendwie gearteter sachlicher Zusammenhang zu Äußerung des Politikers hergestellt werden kann.

Zur besseren Einordnung der Grenzen hier ein paar Einzelfälle aus der jüngeren Rechtsprechung:

  • Als „Obergauleiter der SA-Horden“ wurde der Grünen Politiker Volker Beck bezeichnet. Das BVerfG bewertete dies als eine zwar überspitzte, aber noch sachbezogene Kritik, die ein Politiker hinzunehmen habe (BVerfG Beschluss v. 8.2.2017, 1 BvR 2973/14).
  • Als „Faschisten“ durfte der Afd-Politiker Bernd Höcke bezeichnet werden, dies sei von der Meinungsfreiheit gedeckt entschied das Verwaltungsgericht Meiningen (VG Meinigen, Beschl. v. 26.09.2019, Az. 2 E JJ94/19 Me)
  • Die Bezeichnung der AfD-Politikerin Alice Weidel als „Nazischlampe“ in einer Satire-Sendung „Extra 3“ der ARD hat das LG Hamburg als zulässige satirische Überspitzung im Rahmen der Meinungs- und Kunstfreiheit bewertet (LG Hamburg, Beschluss v. 11.5.2017, 324 O 217/17).
  • Die Verhandlungsführung einer Richterin erinnere an „nationalsozialistische Sondergerichte“ und an „mittelalterliche Hexenprozesse“ bewertete das BVerfG als hinreichend sachbezogen und stelle somit einen von der Meinungsfreiheit geschützten Kommentar dar (BVerfG, Beschluss v. 14.6.2019, 1 BvR 2433/17).
  • Die Grenzen überschritten hatten Internetnutzer, welche die Grünen Politikerin Renate Künast im Zusammenhang mit einem (angeblich von ihr getätigten) Zwischenruf bei der Diskussion um die parteiinterne Forderung der Entkriminalisierung im Sexualstrafrecht unter anderem als „Schlampe“, „Stück Sch…“, „Drecksau“ und „Pädophilen-Trulla“ bezeichnet hatten. Das BVerfG hob damit ein Urteil des Kammergerichts Berlin auf, das diese Äußerungen noch als von der Meinungsfreiheit gedeckt erachtet hatte. Das Kammergericht sah dies noch als zulässige Meinungsäußerung an, da alle Kommentare einen Sachbezug aufwiesen und somit keine Diffamierungen der Person der Beschwerdeführerin und damit keine Beleidigungen nach §185 StGB darstellten.
  • Der Finanzminister von NRW Walter-Borjans muss sich nach dem Urteil des BVerfG gefallen lassen, wenn sein Wirken im Zusammenhang mit der Erhebung des Rundfunkbeitrags wie folgt kommentiert wird: „Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt.“ Wegen dieser Äußerung verurteilten das Amtsgericht und das Landgericht Wuppertal den Beschwerdeführer zunächst wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Das OKG Düsseldorf verwarf die Revision. Der Beschwerdeführer überschreite die Grenze eines Angriffs auf die Ehre des Finanzministers, den er als Person herabwürdige. Zwar werde nicht verkannt, dass die freie Meinungsäußerung ein hohes Rechtsgut sei und dass in der Öffentlichkeit stehende Personen deutliche Kritik auszuhalten hätten. Doch seien auch diese Personen wie andere Bürger geschützt, wenn die Grenze eines persönlichen Angriffs überschritten werde. Dies sah das Bundesverfassungsgericht anders und sah darin eben keine Schmähkritik und Beleidigung des Ministers, sondern eine zulässige Machtkritik und in der Verurteilung eine Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit des Bürgers (BVerfG Beschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19).
  • Auch die Staatsanwaltschaft muss sich Kritik gefallen lassen: ein Verurteilter machte seinem Ärger in einer Email Luft und bezeichnete den Staatsanwalt als „selten dämlich“ und nahm an, dass dieser „nicht lesen und schreiben“ könne. Dies bewertete das Bundesverfassungsgericht ebenfalls noch nicht als Schmähkritik, sondern als eine von dem Recht auf Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung (Beschluss vom 09. Februar 2022 – 1 BvR 2588/20).