Wenn man die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Operation Anom liest, könnte man meinen, Karlsruhe habe sich klammheimlich eine neue Prozessordnung gebastelt: die StPO für rechtsstaatliche Gymnastikübungen. Darin steht sinngemäß:
Wenn du’s nicht so genau wissen willst, darfst du’s ruhig verwerten.
Kein Verwertungsverbot. Kein Problem. Kein Schamgefühl.
I. Der Rechtsstaat auf der Slackline
Der Staat balanciert bekanntlich gern zwischen „Effektiver Strafverfolgung“ und „Grundrechten“.
Bei Anom hat er diese Slackline allerdings durchgeschnitten, sich ein Trampolin aus FBI-Servern gebaut und ruft von unten:
„Seht her! Ich kann fliegen!“
Zur Erinnerung: Das FBI hatte die angeblich „absolut sichere“ Kryptomessenger-App Anom erfunden, in dunkle Kanäle geschleust und heimlich mitgelesen, was dort an Drogen-, Waffen- und Alltagsneurosen verhandelt wurde. Millionen Nachrichten, systematisch ausgewertet – und irgendwann: Hallo, Deutschland! Auch ihr dürft mal spicken.
Das Problem: Der Zugriff erfolgte nicht einfach so, sondern über ein Rechtshilfeverfahren über Litauen – jenes Land, das in diesem Drama die Rolle des unglücklichen Statisten spielt. Dort wurde ein Gerichtsbeschluss erwirkt, um den Server zu „überwachen“. Nur dass das Gericht offenbar belogen wurde.
Denn der Server war kein Tatort, sondern eine Tarnkappe der Ermittlungsbehörden selbst. Das FBI hat dort den Server dort gezielt platziert, sodann betrieben, überwacht und ausgewertet und dann so getan als hätte man ihn dort gerade zufällig entdeckt.
Einmal kurz gelogen, und schon war das Verfahren sauber.
Zumindest, wenn man Staatsanwalt ist.
II. Das Märchen vom litauischen Gericht
Die Recherchen der FAZ, des Verfassungsblogs und einiger unermüdlicher Verteidiger lesen sich wie Satire:
Das FBI habe dem litauischen Gericht verschwiegen, dass es den Server selbst betrieb. Stattdessen wurde suggeriert, man wolle lediglich „kriminelle Kommunikationsstrukturen überwachen“.
Das litauische Gericht segnete das ab.
Auf dieser Täuschung ruht nun die deutsche Beweisverwertung.
Ein Gericht in Litauen wurde also benutzt, um eine Operation zu legalisieren, deren wahre Natur man ihm absichtlich vorenthielt – und der deutsche Rechtsstaat sagt: Na ja, war ja im Ausland.
Das ist ungefähr, als würde ein Kind sich beim Verstecken die Augen zuhalten und glauben, die Polizei sieht’s dann auch nicht.
III. Karlsruhe schaut weg – mit Methode
Und Karlsruhe?
Karlsruhe nickt.
Man wolle sich nicht „an die Stelle des litauischen Gerichts setzen“, heißt es sinngemäß.
Die Daten seien zwar „überraschend“ zustande gekommen, aber ein Verwertungsverbot ergebe sich nicht.
Das nennt man dann wohl Wertegeleitetheit – allerdings mit einem Kompass, dessen Nadel zuverlässig in Richtung „Ermittlungserfolg“ zeigt.
Karlsruhe argumentiert, die Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis seien gering, weil man ja nur Kriminelle überwacht habe.
Aha.
Also: Weil man nur solche überwacht, bei denen man die Straftat schon vermutet, ist die Massenüberwachung gar keine.
Das ist Logik auf Vorschulniveau:
„Ich hab’ ja nur die erwischt, die schuldig sind, also war’s kein Fehler.“
IV. Juristische Selbsthypnose
Der Bundesgerichtshof hatte bereits vorgemacht, wie man sich durch moralische Selbsthypnose zum Ergebnis lullt:
Die Maßnahme sei nicht „anlasslos“, nicht „massenhaft“, und das Vertrauen in die US- und litauischen Behörden könne man ruhig haben – auch ohne Einsicht in die Originalbeschlüsse.
Das Vertrauen ersetzt die Kontrolle, das Ergebnis ersetzt den Beweis.
Und die Rechtmäßigkeit? Nun ja, die ergibt sich aus der Nützlichkeit.
Man muss es so klar sagen:
Die deutsche Justiz verwertet Beweismittel, deren Ursprung sie nicht kennt, deren Erhebung sie nicht prüfen darf, und deren Grundlage durch Täuschung zustande kam.
Aber weil es Drogenhändler waren, stört’s keinen.
Ein Staat, der so argumentiert, hat die Idee des Rechtsstaats mit der des Ermittlungserfolgs verwechselt.
V. Rechtsstaat oder Rechtsakrobatik?
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Beschluss die Grenze zwischen juristischer Zurückhaltung und politischer Gefälligkeit verwischt.
Es ist ein Signal an die Ermittlungsbehörden:
Wenn ihr’s nur kompliziert genug macht, wird’s schon keiner merken.
Und so beugt sich der Rechtsstaat rücklings durch die Luft, im eleganten Flickflack der „internationalen Kooperation“.
Er landet auf dem Boden der Tatsachen – und nennt es Erfolg.
VI. Fazit: Vertrauen ist gut, Täuschung ist offenbar besser
Vielleicht sollte man § 244 Abs. 2 StPO künftig umformulieren:
„Das Gericht hat die Wahrheit zu erforschen – es sei denn, sie stört den Ermittlungserfolg.“
Wer glaubt, Rechtsstaatlichkeit ende dort, wo es unbequem wird, sollte sich besser nicht wundern, wenn sie irgendwann gar nicht mehr anfängt.
Denn wer sich beim Verstecken die Augen zuhält, sieht irgendwann auch wirklich nichts mehr – weder Recht noch Unrecht, nur noch sich selbst.
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 2025 – 2 BvR 625/25
Verfahrensbeteiligte: Landgericht Mannheim (5 KLs 811 Js 8839/23), Bundesgerichtshof (1 StR 281/24)
Tenor: Keine Annahme der Verfassungsbeschwerde, kein Beweisverwertungsverbot für Anom-Daten.
P.S. — Ein letzter, etwas unbequemer Gedanke: Wenn der Staat beim Zuschauen Notizen macht
Übrigens: Bei all der Euphorie über die „Operation Anom“ lohnt ein kleiner Blick auf den moralischen Restposten.
Denn wenn die Behörden über Monate live mitlesen, wie in Echtzeit Drogenlieferungen organisiert, Waffen verteilt oder neue Taten geplant werden – dann stellt sich eine unbequeme Frage: Warum hat eigentlich niemand eingegriffen?
Das mag ermittlungstaktisch begründet sein („Man will das ganze Netzwerk auffliegen lassen“), doch es bleibt der fade Beigeschmack, dass der Staat hier Straftaten duldet, um sie später besser auswerten zu können.
Ein Vorgehen, das nach außen aussieht wie Kontrolle, im Kern aber Teilnahme durch Unterlassen ist – juristisch nicht im Sinne von § 138 StGB, aber moralisch nah dran an jener Gleichgültigkeit, die man sonst Kriminellen vorwirft.
Wenn der Rechtsstaat beim Verbrechen nur noch mitschreibt, statt einzugreifen, sollte er sich fragen, auf welcher Seite des Bildschirms er eigentlich steht.