Der Mandant hatte auf meinen Rat hin geschwiegen. Wenn ein Angeklagter in den letzten 20 Jahren, 21 Einträge im Führungszeugnis angehäuft hat, begegnet das Gericht der Erklärung, „dass es aber diesmal wirklich alles ganz anders war“ erfahrungsgemäß mit einer gewissen Skepsis.
Der Vorwurf lautete: Fahren ohne Fahrerlaubnis und unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. Die Beweislage: Das Fahrzeug mit dem jemand zwei andere Autos leicht beschädigt und sodann die Flucht ergriffen haben soll, war auf die getrennt lebende „Noch“-Ehefrau meines Mandanten zugelassen und anhand des Nummernschildes später gefunden worden. Die zwei Zeugenaussagen von den Fahrern der beiden anderen beteiligten Unfallfahrzeuge waren nach Aktenlage nicht ganz eindeutig. Beide haben angegeben, zwei Männer unterschiedlichen Alters im Fahrzeug gesehen zu haben. Einer will meinen Mandanten erkannt haben. Der andere will als Beifahrer den Sohn erkannt und gehört haben, wie dieser unmittelbar nach der Kollision zum Fahrer sagte: „Papa bleib stehen“. Nach langen Zeugenbefragungen in mehreren Terminen und zahlreichen Beweisanträgen waren die Zweifel soweit gesät, dass die Identifikation durch die Zeugen alles andere als sicher erschien und man nicht so richtig nachvollziehen konnte, wie der Mandant denn überhaupt eine Zugriffsmöglichkeit auf das Fahrzeug hätte erlangen können, denn die Originalschlüssel befanden sich an einem anderen Ort und weder das Tür- noch das Zündschloss waren beschädigt.
Vor dem Amtsgericht gab es daher einen Freispruch, der auf 9 Seiten – ungewöhnlich ausführlich und nachvollziehbar – begründet wurde und zu dem Schluss kam:
insbesondere die Aussagen der Zeugen P, G und M sind teilweise in sich widersprüchlich und von Erinnerungslücken geprägt.
Doch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Die zweite Beweisaufnahme vor dem Landgericht verlief nur 4 Monate später und nach meiner Einschätzung erheblich besser zugunsten des Angeklagten, denn die erneut vernommenen Zeugen konnten sich nun noch schlechter erinnern und die Aussagen warfen die Wiedersprüche noch deutlicher auf als vor dem Amtsgericht. Auch die Staatsanwaltschaft beantragte daher nach dieser Beweisaufnahme den Mandanten freizusprechen. Der vorsitzende Richter der kleinen Strafkammer am Landgericht hatte die Verhandlung erfahren, bestimmt und autoritär geführt. Er hatte sich nicht in die Karten schauen lassen und war mir nicht sonderlich ans Herz gewachsen aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er an den offensichtlichen Widersprüchen vorbei verurteilen würde. Er musste Zweifel haben – aber er hatte keine. Er quetschte die vermeintlich vernommenen Zeugenaussagen aus der Beweisaufnahme so lange bis sie zum Schuldspruch passten und verurteilte meinen Mandanten zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
Also legte ich Revision ein und studierte das Urteil, lange ärgerte ich mich über das was ich lesen musste, denn wichtige Passagen der Zeugenvernehmungen wurden einfach ausgelassen oder „glatt gebügelt“. Leider ist der Richter in dem was er in der Beweiswürdigung aufnimmt relativ frei, denn es gibt kein Wortprotokoll und so kann der Vorsitzende die Widersprüche einfach übergehen. Viel hat er zum Wiedererkennen geschrieben z.B. dass die „Haartracht des Sohnes direkt an der Kopfhaut anliegt“, wie der -aus seiner Sicht – entscheidende Zeuge den Angeklagten im Gerichtssaal gemustert habe etc. Aber dann ist es mir aufgefallen: Einen Punkt hatte er nicht mitgeteilt, einen entscheidenden Punkt, eine Voraussetzung die das Revisionsgericht erfahren muss, um die Beweiswürdigung des Tatrichters nachvollziehen zu können: Ist der Richter davon ausgegangen, dass der Zeuge den Angeklagten bei der Verhandlung erstmalig wiedererkannt hat oder geht er davon aus, dass es sich bei dem Zeugen um ein wiederholtes Wiedererkennen des Angeklagten handelt? Beim wiederholten Wiedererkennen besteht die Gefahr, dass der Zeuge Erinnerungen überlagert und nicht genau unterscheiden kann, ob er diese sehr – suggestiv platzierte Person des Angeklagten (im Gerichtssaal, auf der Anklagebank, neben dem Verteidiger) – wirklich am Tatort oder nur auf einem Foto bei der Polizei, der letzten Hauptverhandlung oder beim Bäcker gesehen hat. In meiner Revisionsbegründung las sich das dann so:
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte die Verwerfung der Revision, denn der Richter habe alles, aber auch alles richtig gemacht.
Große Erleichterung beim Mandanten und auch bei mir, als das OLG das etwas anders sah und das Urteil aufhob: